Mittwoch, 10. September 2014

Hilfe- mein Kind könnte normal sein!

Eine der skurrilsten Anekdoten meiner bisherigen Laufbahn stellt folgende kleine Geschichte dar: Ein Mädchen erzählte in der Frühstückspause einer Freundin, dass sie am Nachmittag "zum gleichen Psychologen" gehe wie eben diese Freundin. Hier soll hinzugefügt werden, dass ihre Freundin durchaus begründet den Psychologen aufsuchte, doch das besagte Mädchen ein völlig unauffälliges, selbstbewusstes und fleißiges Mädchen war.
Als ich diese hörte, hat ich sie, zu mir zu kommen, und fragte sie unter vier Augen: "Warum sollst du denn zum Psychologen gehen?" Ihre Antwort werde ich niemals vergessen: "Mama meint, ich muss da jetzt auch mal hin, weil fast alle anderen auch gehen...".
Jetzt könnte man meinen, das Mädchen habe vielleicht etwas falsch verstanden, jedoch glaubte ich ihr sofort instinktiv. 
Darum sprach ich beim nächsten Mal die Mutter an und fragte, warum ihre Tochter zum Therapeuten gehe. Ihr Antwort war noch skurriler als die Äußerung ihrer Tochter: "In meiner Familie leiden viele unter Depressionen und ich habe mich gewundert, warum ... (Name ihrer Tochter) immer so fröhlich ist. Vielleicht hat sie ja eine manische Depression...".
Gott sei Dank fiel mein Weltbild nicht vollkommen zusammen, da die zu Rate gezogene Psychologin das Mädchen ebenfalls als "fröhliches, intelligentes und psychologisch unauffälliges Kind" betitelte, aber zugleich der Mutter riet, sich wegen "undefinierbaren Ängsten und Panikattacken" behandeln zu lassen.

Leider sind derartige Ängste von Schülereltern nichts Außergewöhnliches, sondern mittlerweile Alltag für uns Grundschullehrer. Beim ersten Elterngespräch nach wenigen Schultagen des ersten Schuljahres bekam eine Kollegin von einer Mutter einen Haufen voll Diagnosen vorgelegt, was unzählige Ärzte und Therapeuten angeblich über ihren Sohn herausgefunden hätten: diverse Lernschwächen und soziale Phobien waren darunter zu finden.

Meiner Kollegin zufolge war der Junge war zwar auffällig ruhig, aber keinesfalls lernschwach oder schüchtern. Was sich allerdings um Laufe der Zeit herausstellte, war, dass Gewalt in der Familie eine gravierende Rolle spielte. Dies hatte jedoch keiner der Ärzte und Therapeuten diagnostiziert...

Ich arbeite wirklich sehr gut mit außerschulischen Partnern, wie dem Jugendamt, Medizinern und diversen Therapiestellen zusammen. Meist ist unsere Arbeit professionell und kooperativ; es werden fundierte Diagnosen gestellt und gemeinsam Förderwege eingeleitet.

Leider gibt es aber auch Experten, die zu sehr auf die Ängste der Eltern eingehen und häufig zu rasch Diagnosen stellen. Besonders beliebt sind hier die Befunde "LRS", "Diskalkulie" und "ADS bzw. ADHS" zu finden.
Und nicht immer stimmen diese Diagnosen mit unseren persönlichen, innerschulischen Beobachtungen und Erfahrungen überein. Nicht selten wird eine LRS viel zu früh bescheinigt, wenn der Lese-Schreibprozess bei einem Kind noch voll im Gange ist. Nicht selten wird eine ADHS bescheinigt, obwohl das impulsive und/ oder unkonzentrierte Verhalten eines Kindes keinerlei negative Auswirkungen auf sein soziales oder schulisches Verhalten hat. Nicht selten wird bei einem Kind Diskalkulie diagnostiziert, obwohl es schlechthin bestimmte mathematische Aspekte wiederholen, üben oder intensivieren muss.

Und tatsächlich scheint es für viele Eltern etwas Beunruhigendes zu sein, wenn ihr Kind für sie "seltsam" oder auch einfach "normal" zu sein scheint bzw. sie dessen Zukunft nicht zu 100% planen können. Dies passt vollkommen in unsere heutige, sehr unsichere Zeit: Man möchte das Beste für das eigene Kind, die besten Noten und nimmt dafür auch in Kauf, dass dieses vielerlei Untersuchungen über sich ergehen lassen, ggf. eine Diagnose hinnehmen oder gar Medikamente einnehmen muss.

Repräsentativ dafür sind auch die Eltern, die bereits im ersten Schuljahr nach der möglichen Form der weiterführenden Schule fragen...

Wir Lehrer schmunzeln häufig über solche Anekdoten, sind uns der Ernsthaftigkeit hiervon allerdings bewusst. Dass besagte Eltern nicht aus Bösartigkeit heraus handeln, ist uns klar. 

Darum müssen wir diesen - auch mit ein wenig Humor und Lockerheit, jedoch mit großem Verständnis- beratend zur Seite stehen und ihnen Ängste nehmen.
Es ist nichts Schlimmes, wenn ihr Kind zur Therapie muss, aber ebenfalls kein Manko, wenn ein Therapiebesuch eben nicht nötig ist.
Wir Grundschullehrer sind eben nicht nur Lernbetreuer für die Kinder, sondern eben auch Berater und "ein offenes Ohr" für die Eltern.


Übrigens sei an dieser Stelle auch angemerkt, dass es ebenfalls viele Mütter und Väter gibt, die den schulischen Werdegang ihrer Kinder zwar durchaus mit dem nötigen Ernst und Engagement, aber dennoch ergebnisoffen und ebenfalls mit etwas Humor angehen. 

Dies haben sie mit uns Lehrern gemein.








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